Editorial Q1 2024 – Deutschland im Dauerstreik?
Dienstag, 20. Februar 2024
Info 03-24

Betrachtet man die allgemeine Berichterstattung der letzten Wochen könnte man den Eindruck gewinnen ganz Deutschland ist im Streik: Lokführer, Flugbegleiter, Landwirte, Bodenpersonal an den Flughäfen, Bus- und Tramfahrer. Die Liste ließe sich fortsetzen. Offenbar ist dies die Art der Diskussion im Jahr 2024, weil die üblichen Formen der Kommunikation zwischen den Verhandlungspartnern versagen. Und damit nicht genug. An vielen Stellen mündet der Protest in gewalttätige Auseinandersetzungen bzw. Nötigungen. Ein Abbild dessen wie wir miteinander in Zukunft umgehen wollen oder auch im Alltag ein gutes Stück weit schon umgehen? Allein auf den eigenen Vorteil bedacht ohne das große Ganze mit im Blick zu haben? Vom einzelnen Streikposten ist dieser Gesamtüberblick vielleicht zu viel verlangt – nicht aber von denen, die gewählt vorne dranstehen und mit ihren Aktionen quasi ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen. Vor einem knappen halben Jahrhundert hat Deutschland noch lächelnd auf seine Nachbarn geschaut, wenn in Italien oder Großbritannien durch Gewerkschaftsaktionen das ganze Land stillstand. Heute blicken diese Länder verwundert auf Deutschland. Die Zeiten haben sich nicht zu unserem Vorteil geändert.

Und wie steht es in der Medizin? Fast gehen unsere Protestaktionen unter in der allgemeinen Berichterstattung. Dennoch sind in unserer von Bildern beherrschten Kommunikation medienwirksame Aktionen des Krankenhauspersonals, der medizinischen Fachangestellten (MFA) und der niedergelassenen Fachärzte von außerordentlicher Bedeutung, wollen auch wir Gehör finden. Hat sich der politische Diskurs tatsächlich so geändert, dass es all dieser öffentlichen Wiederstände bedarf? Offensichtlich schon. Wenn man Gesetzesvorhaben, die das System der Gesundheitsversorgung in Deutschland komplett verändern, derart unabgestimmt und im stillen Kämmerlein geboren, versucht durchzusetzen, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die, die es betrifft dagegen protestieren. Warum muss immer erst alles von sicherlich auf ihrem Gebiet namhaften Experten auf den Weg gebracht werden ohne es mit der Basis ausreichend abzustimmen. Wieviel einfacher und ohne die unnötigen Reibungsverluste könnten Reformen gelingen, die prinzipiell niemand in Frage stellt. Die Liste hierzu ist lang: Ambulantisierung, Hybrid-DRG, Entbudgetierung, Krankenhausreform, Notfallreform usw. Alles dringende Veränderungen, auf die unser Gesundheitssystem angewiesen ist, wollen wir auch in Zukunft mit immer weniger im Gesundheitswesen Tätigen immer mehr Patientinnen und Patienten versorgen.

Aber offensichtlich sind Streik und Protest, verbunden mit dem drohenden oder teils herbeigeführten Stillstand des Landes der einzige Weg aus der Sprachlosigkeit herauszukommen. Die Landwirte haben es vorgemacht und Teile ihrer Forderungen durchgesetzt. Und auch die MFAs. Am Abend des bundesweiten Protesttages war die Einigung über den Tarifvertrag gelungen. Und auch Lokführer, Flugbegleiter und Bodenpersonal werden sich mit ihren Arbeitgebern einigen – hoffentlich zügig im Sinne der Reisenden. So stimmt es optimistisch, dass in einer Pressemitteilung dieser Tage zu lesen war, dass auch die Fachärzte wieder mit dem Gesundheitsminister im Gespräch sind. Offensichtlich haben die jeweiligen Gesprächspartner, die den Protestierenden gegenübersitzen eingesehen, dass im Dialog der einzige Weg besteht die Probleme zu lösen. Wenn diese Einsicht auch im Bundesgesundheitsministerium angekommen ist, haben die Aktionen ihre Wirkung erzielt. Eine jährliche Wiederholung wie in tarifrechtlichen Ritualen möge uns hierbei bitte erspart bleiben.
Für die Radiologie bedeutet dies, das ein abgestimmtes und einheitliches Vorgehen zwischen Berufsverband und Fachgesellschaft zwingend erforderlich ist und bleibt. Schöne Beispiele wie wertvoll eine derartige Strategie ist zeigen die letzten Monate mit den zahlreichen Projekten neuer Rechtsverordnungen und GBA-Verfahren. Nur eine einheitlich auftretende radiologische Vertretung wird auch gehört und kann Einfluss nehmen.
Damit aber nicht genug. Die Radiologie muss sich einreihen in die Gruppe der Fachärzte um ihre Interessen im Gesamtkonzert wahrnehmen zu können. Sei dies zusammen mit den anderen Fachgesellschaften in der AWMF, den weiteren Diagnostikfächern auf Berufsverbandsebene oder mit allen vertretenen Berufsverbänden im Spitzenverband Fachärzte Deutschlands. Eine übergeordnete, finanziell stabile Verbandsstruktur als schlagkräftige und vom Gegenüber akzeptierte fachärztliche Standesvertretung ist essentiell auch für den Fortgang der Radiologie. Der BDR leistet hierzu seinen Beitrag und wird das auch in Zukunft tun – am Liebsten ohne weitere öffentliche Protestaktionen.
 

Prof. Dr. med. Hermann Helmberger
Präsident